Der Vertrag von Saint Germain 1919
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (1914–1918) wurden in Paris und seinen Vororten Versailles, St. Germain-en-Laye, Neuilly-sur-Seine, Trianon und Sèvres zwischen Juni 1919 und August 1920 insgesamt 21 internationale Verträge und Abkommen unterzeichnet, mit denen das Völkerrecht auf völlig neue Grundlagen gestellt wurde. Im Zentrum standen dabei die Friedensverträge mit den Verliererstaaten des Ersten Weltkrieges (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien, Türkei); die Unterzeichnung des Vertrages mit Österreich erfolgte am 10. September 1919 in St. Germain-en-Laye.
Der Vertrag von St. Germain (VSG) besteht aus 381 Artikeln sowie mehreren Anhängen. Er regelt nicht nur Materien, wie sie typischerweise in einem Friedensvertrag vorkommen (Grenzziehung, Reparationsleistungen, Rüstungsbeschränkungen usw.), sondern trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die Österreichisch-Ungarische Monarchie zerfallen war, was z.B. Regelungen über die Staatsbürgerschaft der ehemaligen Staatsbürger der k.u.k. Monarchie notwendig machte. Schließlich enthält der Vertrag auch Materien, die mit dem Krieg in keinem oder nur losen Zusammenhang stehen, wie etwa die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), vor allem aber die Satzung des Völkerbundes, einer internationalen Organisation, die als Vorläuferin der UNO gilt. Einzelne Teile des Vertrages, wie insbesondere die (im Wesentlichen bis heute aufrechten) Bestimmungen über die Grenzen Österreichs, standen stets im Interesse der Öffentlichkeit wie auch der Wissenschaft. Andere Teile dagegen wurden, trotz ihrer teilweise hohen praktischen Bedeutung, bislang nur ungenügend beachtet. Noch hundert Jahre nach Vertragsunterzeichnung fehlte eine gesamtheitliche, juristisch stringente Analyse des gesamten Vertrages.
Das gegenständliche Projekt nahm sich zum Ziel, dieses Defizit zu beheben und den gesamten VSG mit juristischen/rechtshistorischen Methoden zu untersuchen. Gegenstand des Projekts war also nicht die – bereits in vielerlei Hinsicht aufgearbeitete – Entstehungsgeschichte des Vertrages, als vielmehr seine rechtliche Bedeutung, die sich etwa in der Judikatur der österreichischen Gerichte, aber auch in der Tätigkeit besonderer Schiedsgerichte und sonstiger Organe, die auf Grund oder in Folge des VSG eingerichtet wurden, widerspiegelt. Besonderes Augenmerk sollte auf die noch heute geltenden und praktisch relevanten Bestimmungen (wie etwa die in Verfassungsrang stehenden Bestimmungen zugunsten religiöser und ethnischer Minderheiten) gelegt werden. Die Frage, ob eine Bestimmung überhaupt noch in Geltung steht, war sowohl aus völkerrechtlicher Perspektive als auch aus innerstaatlicher Perspektive zu beantworten.
Das Projekt wurde 2017–2021 unter dem Dach der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der ÖAW, in Kooperation mit den Universitäten Graz (Anita Ziegerhofer), Linz (Herbert Kalb) und Wien (Thomas Olechowski) durchgeführt und vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützt (Projekt P 29774). Im Zentrum stand der erste umfassende Kommentar zum Vertrag von Saint Germain, der durch ein 18köpfiges Team aus Jurist*innen, Historiker*innen und einem Geodäten erarbeitet wurde. Daneben entstand eine Reihe weiterer Publikationen und wurden Vorträge auf Fachtagungen gehalten; im September 2018 fand in der ÖAW eine internationale Tagung "Der Vertrag von Saint Germain im internationalen Kontext der europäischen Nachkriegsordnung" statt, deren Ergebnisse 2019 in einem Themenband der BRGÖ publiziert wurden.